Hochbegabung erkennen

Hochbegabung erkennen

Je früher hochbegabte Kinder erkannt werden, desto eher können sie gezielt nach ihren individuellen Bedürfnissen gefördert und dabei unterstützt werden, ihre außergewöhnlichen Potenziale zu entfalten. 
Leider ist das nicht ganz einfach und erfordert die Zusammenarbeit von Eltern, Erziehern, Lehrern und psychologischem Fachpersonal.
Hochbegabte Kinder heben sich von Gleichaltrigen ab, indem sie ein Potenzial dafür haben, intellektuelle Leistungen zu erbringen, die deutlich über dem Altersdurchschnitt liegen. In seltenen Fällen ist die Lage dabei eindeutig. Das Kind spricht zum Beispiel im Alter von einem halben Jahr in ganzen Sätzen oder löst mit drei Jahren mathematische Gleichungen. Hier ist die altersgemäße Entwicklung drastisch überschritten.
Die breite Masse hochbegabter Kinder fällt jedoch nicht derart auf. Genaue Beobachtung, der Vergleich mit Gleichaltrigen oder Erfahrungen mit anderen Kindern kann Hinweise geben. Auch hier sind jedoch Grenzen gesetzt. Der subjektive Eindruck kann trügen und je jünger das Kind, desto weniger stabil ist die Intelligenzentwicklung. 
Ab einem Alter von etwa fünf Jahren können Intelligenztests eingesetzt werden, die relativ verlässliche Aussagen ermöglichen. Dauerhaft gültige Ergebnisse zur intellektuellen Begabung ergeben aber auch sie noch nicht. Mit circa acht bis zehn Jahren ist die intellektuelle Entwicklung von Kindern im Durchschnitt schließlich so weit stabilisiert, dass die Hochbegabungsdiagnostik mittels Intelligenztests deutlich besser möglich ist.

Indizien für Hochbegabung

Im Verhalten und Denken hochbegabter Kinder können eine Reihe von Indizien darauf hinweisen, dass eine Hochbegabung vorliegt. Dabei zeigen nicht alle hochbegabten Kinder dieselben Vorlieben und Verhaltensweisen. 
Manche fallen auch kaum auf, gerade wenn sie schüchtern sind oder Wert auf soziale Anpassung legen.
Die folgenden Merkmale sollten daher nur als Indizien gewertet werden. Ihr Aussagewert wird durch die Individualität der kindlichen Persönlichkeit ebenso eingeschränkt, wie durch die Objektivität der Beobachtung und Bewertung! Sicherheit schafft hier letztlich nur ein professionelles Testverfahren.

Mögliche Hinweise auf Hochbegabung sind zum Beispiel:
  • ein sehr frühes und ungewöhnlich starkes Interesse an der Umwelt
  • frühes und altersgemäß außergewöhnliches Sprachvermögen
  • starkes und frühes Interesse an Zahlen, Buchstaben und Symbolen
  • stark ausgeprägte Lernfreude
  • Verstehen komplizierter Zusammenhänge und Anwendung auf unterschiedliche Probleme, bzw. Fragestellungen
  • selbstständiges Erlernen von Rechnen und Schreiben
  • hervorragende Denkfähigkeiten und Gedächtnis
  • Hohe Wissensansprüche, die bei Erwachsenen eingefordert werden: Kinder wollen Inhalte verstehen und erklärt bekommen, die einem (teils deutlich) höheren Lebensalter entsprechen.
  • Fähigkeit zu Phantasie und originellen Problemlösungen
  • Vorliebe für Umgang und Kommunikation mit älteren Menschen
  • hohe Sensibilität für zwischenmenschliche Beziehungen
  • stark ausgeprägter Gerechtigkeitssinn und Hinterfragung von Autoritätspersonen

Kleinkindalter

Bei Säuglingen und Kleinkindern gibt es keine sicheren Hinweise auf eine hohe Begabung. Ihre Entwicklung verläuft zu schnell, schubweise und wird zudem stark von der Umwelt beeinflusst. Insbesondere hängt die Intelligenz im Kleinkindalter nicht ausreichend stark mit der späteren Intelligenz zusammen, um verlässliche Aussagen zu treffen. Dennoch zeigt sich in dieser Phase oft bereits ein reges Interesse an der Umwelt, an sachbezogener Auseinandersetzung mit der Umwelt, an logischen Zusammenhängen („wenn-dann“), eine frühe Sprachentwicklung, ein vermindertes Schlafbedürfnis, ein genaues Schauen, konzentriertes Beobachten und schnelles Erinnern bereits erlebter/beobachteter Zusammenhänge.

Kindergarten- und Vorschulalter

Im Vorschulalter fallen hochbegabte Kinder häufig zusätzlich zu den genannten Punkten durch ihre Lernfreude auf, ihre Fähigkeit komplexe Zusammenhänge zu erfassen, ihre hohe Konzentration bei der Auseinandersetzung mit schwierigen und komplexen Aufgaben oder einen frühen und selbstständigen Erwerb von Lesen, Schreiben und Rechnen. 

Schulalter

Im Schulalter äußert sich intellektuelle Hochbegabung teilweise durch hervorragende Leistungen in mehreren oder allen Schulfächern. Ein eindeutiger Indikator ist aber auch dies nicht. Zum einen können hohe Leistungen auch durch besondere Beharrlichkeit und Leistungswillen entstehen. Zum anderen gibt es Hochbegabte, die nur in einzelnen Bereichen besonders begabt sind. Bei hochbegabten Kindern mit Migrationshintergrund können sprachliche Barrieren, kulturelle Prägungen und soziale Probleme dazu führen, dass ihre schulischen Leistungen ihrem Potenzial nicht gerecht werden. 

Verdeckte Hochbegabung

Hochbegabte Kinder und Jugendliche sind manchmal kaum oder gar nicht von durchschnittlich oder unterdurchschnittlich begabten Gleichaltrigen zu unterscheiden. Gerade Underachiever und Hochbegabte, die Camouflage-Strategien anwenden, sind schwer zu erkennen. 

Underachiever

Underachiever sind Kinder mit intellektueller Hochbegabung, die deutlich hinter ihrem Leistungspotenzial zurückbleiben. Im Schulalltag zeigen sie durchschnittliche, manchmal stark unterdurchschnittliche Leistungen auch in Fächern und Themen, die voll ihrem Begabungsprofil entsprechen. Die Ursachen hierfür sind vielfältig und reichen von Unterforderung und Schulunlust, bis hin zu sozialer Überanpassung und psychischen Problemen. 
Underachiever benötigen eine besondere, oft auch professionelle psychologische, Unterstützung. Indikatoren für Underachievement liegen zum Beispiel in einer deutlichen Diskrepanz zwischen privat und schulisch gezeigten Fähigkeiten und Begabungen oder in Diskrepanzen zwischen hohen Leistungen in schulischer Projektarbeit und Wettbewerben sowie niedrigen Leistungen im Schulalltag. 

Camouflage

Einige hochbegabte Kinder, vor allem Mädchen, fallen in ihrer Entwicklung häufig überhaupt nicht auf. Sie haben sich an ihr Umfeld angepasst und ahmen das Verhalten der Gleichaltrigen so gekonnt nach, dass weder eine Über- noch eine Unterforderung vermutet wird. Sie „laufen mit“. Der Wert der sozialen Akzeptanz ist dabei das höchste Gut, dass von ihnen angestrebt wird. Das intellektuelle Potenzial wird „auf Pause“ gesetzt. 
Manchen Kindern gelingt dieser Spagat und sie schaffen es, punktuell dennoch auf ihr Potenzial zuzugreifen und sich dort zu entfalten, wo es „erlaubt“ erscheint. Bei anderen Kindern wird das Spannungsfeld zwischen gezeigtem und erlebtem Verhalten irgendwann unerträglich,und sie entwickeln verschiedene Symptome (Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Ängste, Zwänge, mangelndes Selbstwertgefühl, Depressionen …). Manchmal fällt erst dann im Rahmen einer Diagnostik auf, dass die Ursache dieses Spannungsfeldes eine Hochbegabung ist.

Die Rolle von Erziehern und Lehrern 

Die Identifikation von Hochbegabung ist in den meisten Fällen ein längerer Prozess. Am Anfang steht die Beobachtung des Kindes und seiner Begabungen. Hier sind die Eltern gefragt, aber auch Erzieher und Lehrer.
Wichtig ist, Kindern zu vermitteln, dass Wissensdurst, Neugier und Nachfragen willkommen sind. So erhalten auch schüchternere Hochbegabte die Gelegenheit, ihrem Wissensdurst Ausdruck zu verleihen und fallen eher auf. Erzieher und Lehrer verfügen in diesem Zusammenhang aufgrund ihres täglichen Umgangs mit Kindern unterschiedlicher Hintergründe und Fähigkeiten über ein breites Erfahrungsfundament. Damit können sie helfen, die Beobachtungen von Eltern einzuordnen und aus anderer Perspektive zu betrachten. Zu beachten ist allerdings, dass im Erziehungs- und Bildungswesen die Identifikation hochbegabter Kinder nur selten im Mittelpunkt steht. So stellen Erzieher und Lehrer eine wichtige Informationsquelle und Hilfe dar – eine eindeutige Diagnose übernehmen sie aber nicht. Hier fügt sich als finaler Baustein die psychologische Testdiagnostik ein. 

Testdiagnostik

Wissenschaftlich fundierte Testverfahren sind in der Lage, die Struktur und das Ausmaß menschlicher Intelligenz gut zu bestimmen. Geht es darum, festzustellen, ob ein Kind intellektuell hochbegabt ist, sind sie daher angeraten. Auch hier gilt es jedoch zu beachten, dass Testverfahren einige Einschränkungen haben. 
Wie bereits erwähnt, sind Intelligenztests erst ab einem Alter von etwa acht bis zehn Jahren verlässlich einsetzbar. Zudem bedarf eine verlässliche Testdiagnostik unbedingt professioneller Durchführung. Für gültige Ergebnisse müssen die richtigen Testverfahren im richtigen Umfeld und auf die richtige Art und Weise eingesetzt werden. Das erfordert entsprechend geschultes psychologisches Fachpersonal. Zudem stellt sich im Zusammenhang mit jeglicher Testung die Frage der Leistungsmotivation. Manche Kinder sind extrem motiviert, manche weniger. So können weniger begabte, aber hoch motivierte, Kinder gute Ergebnisse erzielen, während Hochbegabte mit geringer Leistungsmotivation unter ihren Möglichkeiten bleiben. Auch dies zeigt wieder die Notwendigkeit professioneller Durchführung; denn Psychologen sind für diese Umstände sensibilisiert und ausgebildet. 

Zusammenfassung

Intellektuelle Hochbegabung ist ein ebenso breites Feld wie künstlerische oder sportliche Hochbegabung. Aber sie ist deutlich schwerer zu erkennen.
Die Feststellung, ob Kinder und Jugendliche eine intellektuelle Hochbegabung und entsprechende Potenziale in sich tragen, braucht eine genaue und objektive Beobachtung, Informationen aus verschiedenen Quellen und oftmals eine testpsychologische Untersuchung. Nur so lässt sich sicher und verlässlich ermitteln, ob eine Hochbegabung vorliegt, wie sie strukturiert ist und welche intellektuellen Fähigkeiten sie betrifft. 
Eltern, Erzieher, Lehrer und psychologische Fachkräfte sollten hierbei Hand in Hand arbeiten. Und bei all dem darf nicht aus den Augen verloren werden, dass hochbegabte Kinder vor allem Kinder sind. Sie mögen spezielle intellektuelle Bedürfnisse und Fähigkeiten haben, auch ein großes Potenzial, später einmal viel damit zu erreichen. Im Mittelpunkt sollte aber immer ihr Wohlergehen stehen, emotional, geistig und körperlich.
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